Sonntag, 28. Juni 2009

Basisinnovationen im Vergreisungsstaat
Kazue Haga & Jochen Röpke
22. Juni 2009

In seiner Spalte „Das Kapital“ macht sich die Financial Times Deutschland Gedanken über das langfristige Wachstumspotential der U$A-Wirtschaft. „Eine Verlangsamung des Potentialwachstums (ist) zu befürchten“. Wie soll das passieren? Die Gesellschaft vergreist, höhere Steuern und Abgaben stehen an. Das „Alterungsproblem“ betrifft auch Länder wie China, auch dort wird also die Wachstumsrate, demographisch bedingt, sinken müssen. Vielleicht retten die US und andere reife und junge Industriestaaten „Basisinnovationen“. Aber es ist unsicher.

Zunächst die Aussagen der FTD, danach unsere Anmerkung.
Alles in allem steht da eine empfindliche Verlangsamung des Potenzialwachstums zu befürchten, zumal auch die US-Gesellschaft vergreist und der finanziell überforderte Staat die Angebotsseite der Wirtschaft zusätzlich noch mit Abgaben und/oder Inflation drangsalieren dürfte. Ähnliches gilt für weite Teile der entwickelten Welt, wobei das Alterungsproblem auch Länder wie China betrifft.

Vielleicht stehen neue Basisinnovationen unmittelbar bevor - etwa in Umwelt-, Energie- oder Antriebstechnik, die der Weltwirtschaft einen ähnlichen Schub verleihen könnten, wie es in den 90ern neben Globalisierung und Deregulierung vor allem wohl die IT-Revolution vermocht hat. Aber das ist so schwer abzusehen, dass die Analysten und alle anderen Marktteilnehmer vorläufig lieber mal die Wachstumsannahmen in ihren Diskontierungsmodellen zusammenstutzen sollten. Oder vielleicht doch lieber nicht. Denn die neuen Berechnungen würden heikle Ergebnisse zeitigen.
Bemerkenswert ist die gedankliche Verknüpfung von demographischem Wandel („Vergreisung“) mit (potentiellen) Basisinnovationen, also grundlegenden technologischen Durchbrüchen, deren Entfaltung, nach der Logik von Joseph Schumpeter, Investitionen verlangt, neue Kapazitäten erforderlich macht, die Nachfrage nach Arbeit verstärkt.

Gegenwärtig sieht es ja dunkel aus, in allen Volkwirtschaften, ausgenommen China, beträchtliche Unterauslastung der Kapazitäten und entsprechender Einbruch der Investitionen (siehe Abbildung). Das kann anhalten – wie lange weiß niemand. Was kann also als Wachstumsretter auftreten? Im Schumpetermodell ist es klar. Aber solches nimmt niemand richtig ernst, um so wertvoller der Hinweis der Kollegen von FTD.


Vergreisung kann viel heißen. Im obigen Zitat ist wohl die demographische Alterung gemeint. Der Anteil der biographisch alten Menschen, relativ und absolut, steigt. Die USA stehen noch relativ gut da, da sie die vergreisende weiße Kompetenzklasse durch Immigration ersetzen, überwiegend jedoch durch niedrig qualifizierte Humankapitalimporte aus Lateinamerika. Vergreisung heißt also (unsere Interpretation) zunächst Substitution von Hochqualifizierten (die in Rente gehen) durch Niedrigkompetente (die importiert werden). Beide Klassen bürden zudem dem hochverschuldeten Staat (USA, ähnlich Westeuropa) steigende Soziallasten auf. Die USA wandeln sich somit tendenziell in eine Dritte-Welt-Wirtschaft – wenn es nicht gelingt, eine neue Basisinnovationen durchzusetzen – die alten sind ausgereizt. Diese Befürchtung wird in Internetblogs der USA – nicht in Mainstreammedien und Wissenschaft – längst diskutiert. Für die Politik ein Tabu. Die nächste Abbildung zeigt die Änderung der Immigrationsströme und der damit verknüpften Kompetenzprofile.


Obige Prozesse laufen seit Jahren. Die Scheindynamik der Blasen auf den Immobilien- und Finanzmärkten hat sie für mediale und wissenschaftliche Beobachter kognitiv und emotional verschleiert.

Das Schlagwort „Vergreisung“ verdeckt Potentiale der demographischen Veränderung. Die Argumentation folgt ausschließlich dem biographischen Alterungskonzept. Menschen leben jedoch länger gesünder. Sie können länger arbeiten und in den USA dürfen sie es auch: die Verfassung verbietet Eingriffe des Staates in die Lebensarbeitszeit. Ein „mandatory retirement“ gibt es nicht. Die „Krise“ zwingt zudem viele Amerikaner länger zu arbeiten, da ihr Ruhestandsvermögen eingebrochen ist. Viele Alte versuchen sich auch als Selbständige. Die Abbildung zeigt die selfemployment-rate von Alterskohorten. Die 65 Jahre plus (die Klasse der „Vergreisten“) macht das Rennen. In Japan beobachten wir Vergleichbares.


Quelle: Scott A. Shane, Recession Driving Start-Ups, New York Times, 16. Juni 2009.


Wie passen Basisinnovationen in diese Logik? Ob die im Zitat genannten Sektoren (Umwelt, Energie, Antriebstechnik) es bringen, läßt sich bezweifeln. Die angesprochenen Industrien weisen nur eine bescheidene Kondratieffqualität auf. Was sich hier abspielt ist die technologische Modernisierung und der Umbau von nahezu stagnierenden Sektoren mit bescheidener Wachstumsdynamik. Ökonomisch vollzieht sich die Internalisierung von sozialen Kosten (Umweltschäden). Kohle und Erdöl und Verbrennungsmotor werden durch Neues ersetzt, der Markt insgesamt wächst – in den reifen Industrieländern - aber nur bescheiden.

Die Basisinnovationen der Zukunft haben andere Quellen, nicht zuletzt der „Vergreisung“ geschuldet: Die Ausweitung einer gesunden Lebensspanne der Menschen durch bio-gerontologisch-medizinische Innovation. Und durch Änderung der Lebensweise. Hier entstehen, wenn die Gesellschaft nicht ethisch verriegelt, basisinnovative Potentiale mit dem Charakter Langer Wellen. Bis es soweit ist, dauert es allerdings noch Jahre. Die Dynamik wird über Jahrzehnte laufen, mindestens eine Lange Welle (40-60 Jahre) energetisch speisen. Im Augenblick wird geforscht, in frühen Phasen der Welle auch schon gute Umsätze erzielt (Bio; Nano). In 10 bis 30 Jahren könnte die Umsetzung der NBIC-Potentiale (Nano, Bio, Info, Cogno) in größerem Stil beginnen und die gesunde Lebensspanne der Menschen beträchtlich verlängern. Die USA und China haben hier gute Karten, Europa koppelt sich ab. Opportunitätskosten der Diskursethik. There is no free lunch (Milton Friedman). Für Jahre – unsere Prognose – wird sich das Wachstum in den reifen Industrieländern in historisch bescheidenem Rahmen vollziehen. Die Finanzkrise ist nicht die Ursache. Sie hat das Potentialwachstum nur früher auf eine Rate absinken lassen, die sich ohnehin eingestellt hätte.

Montag, 22. Juni 2009

Neue Kombinationen

20. Juni 2009

Wir zitieren kommentarlos aus der ersten Auflage der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, erschienen 1911, Neuauflage 2006. Ur-Schumpeter. Weitgehend unbekannt. Für die spracharmen angelsächsischen Ökonomen terra incognita. Auf Druck der Kollegen hat Schumpeter Theorieradikales in späteren Auflagen entfernt. Einiges haben wir gegen Ende zitiert. Den theoretischen Fortschritt seit 1911 betrachte ich als eher marginal – andere „Österreicher“ ausgenommen. Daher der Titel unseres Blogs: Neukombination. Er setzt einen Blog fort, den wir an anderer Stelle unterhalten haben.
Das Problem mit Schumpeter und anderen radikalen Denkern: Man muß sie für sich selbst re-konstruieren. (J.R.)

Joseph A. Schumpeter (1911)

Wie setzt sich das Neue in der Wirtschaft durch?(S. 162).

Die neuen Kombinationen sind zunächst nichts Materielles, sie sind zunächst überhaupt nichts. Ihr Vorhandensein im Bewußtsein einiger Leute ändert nichts an dem Gange der Wirtschaft und ist an sich, wie wir sahen, so bedeutungslos wie die Kanäle im Mars.
So ist also die Energie das ent¬scheidende Moment und nicht die “Einsicht" allein. Letztre ist viel häufiger, ohne daß sie zur einfachsten Tat führt (164).
Was den (Unternehmer) charakterisiert, ist wie hier, so überall die Energie der Tat und nicht die des Gedankens. Und diese Funktion ist wesent¬lich für die Entwicklung auf allen Gebieten. Der gleichsam schutzlose neue Gedanke würde so gut wie nie beachtet werden. Er bliebe unbekannt oder doch unverstanden — denn zu der Aufnahme von etwas Neuem ist ein Prozeß des Umdenkens für alle in statischen Bahnen Hingleitenden nötig —, er würde auf Ablehnung oder doch nur auf jene matte, vage Art der Zustimmung stoßen, die zu wirklicher Fruchtbarkeit nie führen kann (544).
Unsre Behauptung ist also, daß ein Unternehmer der¬jenige ist, der neue Kombinationen durchsetzt, wozu, wie wir sahen, nichthedonisches Handeln so gut wie stets nötig ist. (S.172).
Nur dann erfüllt er die wesent¬liche Funktion eines solchen, wenn er neue Kombinationen realisiert, also vor allem, wenn er die Unternehmung gründet, aber auch, wenn er ihren Produktionsprozeß ändert, ihr neue Märkte erschließt, in einen direkten Kampf mit Konkurrenten eintritt usw.(S.174).
Der erste Unternehmer, der den hedonischen Bann bricht, der auf jeder stationären Volkswirt¬schaft ruht, hat große Schwierigkeiten zu überwinden. Sein Tun begegnet Mißtrauen und offenem oder passivem Wider¬stand. Die Rechtsformen und die technischen Bedingungen, deren er bedarf, müssen erst geschaffen werden. Besonders die Finanzierung seiner Unternehmung ist eine ganz neue und unbekannte Operation. Eine starke Persönlichkeit nur kann sich da durchsetzen. Sie unternimmt ein Wagestück, zu dem großer Mut gehört. Mißlingen und Untergang sind wahrscheinlicher als Erfolg. (S. 430)
Bei der Durchsetzung neuer Kombina¬tionen … tut er zweierlei: Erstens fällt er die von einer unübersehbaren Anzahl verschiedener Momente, von denen manche überhaupt nicht genau gewertet werden können, abhängige richtige Entscheidung, ohne diese Momente erschöpfend zu unter¬suchen, was nur wenigen Leuten von ganz bestimmter An¬lage möglich ist, und zweitens setzt er sie dann durch. Das sind die Charakteristika und die Funktionen unsres Unter¬nehmers, unsres Mannes der Tat. Sie sind untrennbar und gleich wichtig. Und das Resultat ist wirtschaftliche Ent¬wicklung, Fortschritt. Nur von unserm Typus gehen sie aus, nur durch seine Betrachtung sind sie zu verstehen (S.177).
Um überhaupt produzieren, seine neuen Kombinationen durchführen zu können, braucht der Unter¬nehmer Kaufkraft. Und diese Kaufkraft wird ihm nicht, wie dem statischen Produzenten, automatisch im Erlös der Produkte aus der vorhergegangenen Wirtschaftsperiode dar¬geboten. Wenn er sie nicht zufälligerweise sonst besitzt — und wenn das der Fall ist, so ist das lediglich die Kon¬sequenz früherer Entwicklung —, muß er sie sich “aus¬leihen" (207-8).

(Die) Tatsache entwicklungsloser Volkswirtschaften lehrt uns daß Individuen, die fähig und geneigt sind, solche Neuerungen durchzuführen, völlig fehlen können (339-40).

Es folgt aus der ganzen Anlage unsres Gedankengangs, daß es kein dynamisches Gleichgewicht gibt. Die Entwick¬lung ist ihrem innersten Wesen nach eine Störung des bestehenden statischen Gleichgewichts ohne jede Tendenz, diesem oder überhaupt irgendeinem andern Gleichgewichts¬zustande wieder zuzustreben. Sie ändert die Daten der statischen Wirtschaft und zwar nicht durch organische Um¬bildung, sondern gerade durch Neugestaltung und sozusagen unorganisch. Sie strebt aus dem Gleichgewichte heraus. Das was man organische Entwicklung nennen könnte, ist etwas andres, führt auf andern Bahnen anderswohin. Tritt dann auch wieder ein Gleichgewichtszustand ein, so ge¬schieht das nicht durch die Triebfedern der Entwicklung selbst, sondern eben durch eine Reaktion gegen dieselbe, durch andre Kräfte, welche ihr gerade das Ende bereiten und eben dadurch die erste Voraussetzung für die Her¬stellung eines Gleichgewichts schaffen. Das erste dagegen, was eintritt, wenn es wieder zu einer Entwicklung kommt, ist die neuerliche Störung des Gleichgewichts der Volks¬wirtschaft. Entwicklung und Gleichgewicht, beides in unserm Sinne genommen, sind also Gegensätze, die einander aus¬schließen. Es wird nicht die statische Wirtschaft durch ein statisches und die dynamische Wirtschaft durch ein dyna¬misches Gleichgewicht charakterisiert, sondern es gibt über¬haupt nur in der erstem in Gleichgewicht. Das Gleich¬gewicht der Wirtschaft ist essentiell ein statisches (489).
Da aber die Tatsachen der Entwicklung ihrerseits nicht einfach in das Gebäude der Statik ergänzend eintreten, sondern sich zum Teile außerhalb desselben als besondres und ein¬heitliches theoretisches Ganzes konstituieren, so handelt es sich in der Nationalökonomie essentiell um zwei verschiedene Tatsachengruppen, nicht etwa nur um zwei Auffassungs¬weisen.(513).